Anmerkungen zur Kreativität des Künstlers Matthias Kunkler, von Alban Sänger

Vor Kurzem habe ich in LETTRE den Abdruck der Antrittsvorlesung von Pascal Dusapin am Lehrstuhl für künstlerische Kreation am Collège de France gelesen, und während ich las, spannen sich immer mehr Fäden zu dem künstlerischen Schaffen von Matthias Kunkler.
(in: Lettre international, 82, Herbst 2008, S. 74 ‐ 79)

Der Vortrag des Komponisten Dusapin trägt den Titel
„KOMPONIEREN – MUSIK, PARADOX, FLUX – AUS DER WERKSTATT EINES OHRENDENKERS.“

Mir drängte es sich geradezu auf, den Titel auf das Werk von Matthias zu transponieren:
KOMPONIEREN – MALEREI, PARADOX, FLUX – AUS DER WERKSTATT EINES AUGENDENKERS.

Auch wenn zeitgenössische Maler wie G. Richter oder S. Polke im Affekt gegen die Maler‐Komponisten in der Nachfolge Kandinskys und Malewitschs den Begriff der Komposition aus dem Felde der Malerei vertrieben haben, scheint er mir doch sinnvoll zur Beschreibung des künstlerischen Tuns von Matthias Kunkler, wenn man von seiner etymologische Bedeutung ausgeht:

Com‐ponere = zusammen‐setzen, -stellen, -legen, -fügen.

M.K. setzte/stellte/legte und fügte zusammen, was er zuvor zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Situationen „zu Papier“ gebracht hatte. Und was er da notiert hatte, wurde wieder zerschnitten und zerrissen, dekomponiert um wieder rekomponiert zu werden, als ob er die Antwort auf Dusapins rhetorische Frage vorweg gegeben hätte:
„Heißt Komponieren nicht, dieses Oszillieren zwischen dem Modell einer präexistenten Form und der Idee einer anderen Form gleichsam unablässig zu dekomponieren und zu rekomponieren?“

Nicht von ungefähr stellt sich sofort die Idee eines Kreislaufes ein, eine Idee, die man benötigt, um ökologisch denken zu können (z.B. C‐ und N – Kreislauf), nämlich den Zusammenhang zwischen anorganischer Welt und der Welt der Organismen.

Was sie uns zeigen, ist Leben. Ein Leben ohne sie kennen wir nicht (und ob Gott ist wie leben, wissen wir nicht), es sei denn wir akzeptieren Dusapins These, dass auch die Musik mehr ist als nur „regloser Gegenstand“, nämlich „lebendig – in dem Sinne, wie die Biologie das Wort versteht.“

M.E. hat hier Dusapin eine zu gute Meinung von der Biologie, die sich eher davor verlegen drückt, den Begriff des Lebens zu verwenden. Aber er tut dem Zuhörer den Gefallen und erläutert sein Verständnis:

„Eine musikalische Form gleicht einem Organismus, der mit Leben beseelt ist und in dem jeder Teil sich in Funktion zu einem globalen Dynamismus herausbildet und entwickelt.“

Sich herausbilden, sich entwickeln – in diesen reflexiven Verben drückt sich die A‐ subjektivität des kreativen Prozesses aus: Etwas macht sich; etwas geschieht – in dem Sinne, wie Nietzsche das cartesianische Ich denke depotenzierte zu dem Es denkt vergleichend mit dem Es blitzt.

Das Es führt die Hand des Komponisten:
„Auf dem Blatt zunächst nach oben zu gehen, dann nach unten, anschließend nach links, dann nach rechts, wieder nach oben, nein, nach rechts und so fort ... diese Bewegungen der Hand pfropfen Rhythmen und Timbres einander auf und befruchten sie gegenseitig. Die Vitalität des einen bringt die Substanz eines anderen hervor und umgekehrt. Durch diese unentwegte Bewegung entsteht Musik.“

Man könnte hinzufügen: auch eine Zeichnung, ein Bild. Auch sie legen wie eine Komposition Zeugnis von diesem „kleinen Tanz der Hand“ (Dusapin) ab. Man vergisst das so leicht in Zeiten, in denen auch das Betätigen von Tastaturen und das Spiel mit der Maus zu Bild‐Produkten führen.

Aber während im ersten Fall die mit Zeichenstift oder Pinsel bewehrte Hand ihren eigenen Impulsen folgt, muss im digitalen Fall die Hand sich im abgezirkelten Raum eines Programms bewegen – sie bedient einen Code, hingegen die andere Hand eine Begegnung organisiert zwischen einer und einer anderen Materie, z.B. der festen Kohle oder der flüssigen Farbe mit dem Papier oder der Leinwand. Der bildende Künstler organisiert eine Zusammenkunft, bei der viel geschehen kann, z.B. das eine Papier saugt gierig die Farbe ein, während ein anderes sich gegen die Berührung wehrt und sie abfließen lässt...

M.E. deutet Dusapin auf etwas Wesentliches hin, wenn er auf die Mitwirkung materieller Komponenten beim schöpferischen Akt verweist, selbst da, wo man es vorderhand gar nicht vermutet, nämlich beim Schreiben von Musik:
„Entscheidend sind hierbei die Trägheitsmomente der verwendeten Mittel: Seitenformat, Papierqualität, Stift, Radiergummi, Lineal, Tinte und so weiter... “

Es ist bekannt, dass Elias Canetti sich immer einen bestimmten Satz von angespitzten Bleistiften auf seinem Schreibtisch zurechtgelegt hatte, bevor er sich ans Schreiben begab; andere Schriftsteller hatten „ihren Füller“, „ihre Schreibmaschine“ etc.

Und wenn für das Schreiben und Komponieren schon die Wahl der Mittel von großer Bedeutung ist, um wie viel mehr für einen Zeichner und Maler.

Ein Zeichner erschafft Zeichen; ein Maler Male.

Geht man der Etymologie des Wortes Mal nach, dann tauchen da folgende Sinnstränge auf:

  1. Mal im Sinne von Fleck, Markierung und
  2. Mal im Sinne von Zeitpunkt.

Zum ersten Strang gehören die Bedeutungen: Schmutz, schwarz, blauer Fleck; zum zweiten: Maß, Gelegenheit, Zeit.

Alle diese Bedeutungen hat Matthias Kunkler materialisiert und miteinander zu einer materiellen Textur verwoben. Man schaue hin und man findet: markierte abgemessene Felder, über die manchmal Zeichen fliegen; aufgesetzte schwarze, blaue und andersfarbige Flecken ‐ als ob das ursprüngliche Bild mit einem anderen Bildfetzen hätte geflickt werden müssen; Spuren vom Schmutz der Pinsel, der Finger, ja sogar Fußabdrücke; wiederverwendete Bildteile aus anderen Zeiten, entstanden bei anderer Gelegenheit.

Niemals ist das Bild aus der Zeit, deren Datum es trägt; das Datum bezeichnet nur den Tag der Entlassung aus der Zeit des Malers in die Zeit des Betrachters; dieser kann sich auf ein bestimmtes Werk nur mittels des Zeittitels beziehen, der aber auf nichts Konkretes verweist wie z.B. ein besonderes persönliches oder gesellschaftliches Ereignis. Man braucht sich also nicht zu fragen, was war am 3. Juni 1993, sondern sich nur daran zu erinnern, dass es diesen Tag gab, der für unendlich viele Menschen unendlich Verschiedenes bedeutet.

Es war der Tag, an dem gleichsam eine Transsubstantiation des künstlerischen Materials zu einem Werk stattgefunden hat: ein Werk ist zur Welt gekommen, gegenwärtig geworden als eine Komposition von Zeitbildern, die sich überlagern, unterschieben, verdecken, ineinander schieben, aus dem Wege räumen, sich behindern, sich ergänzen, sich gegenseitig kommentieren, einander widerstreiten, Allianzen eingehen, kämpferische Kohorten bilden, einander betrachten…

Was da zugleich ist, ist wie ein Moment des Bewusstseins, der Geschichte, des Lebens, wie der jeweils gerade erklingende Ton, Akkord oder das momentane Geräusch, bedeutsam nur als ein Ereignis vergangener Ereignisse und doch eine „Initialvision“ (Dusapin).

Dem Betrachter wird viel zugemutet. Matthias Werke lassen sich nicht genießen wie ein Schluck Cognac. Sie fordern heraus zum schöpferischen Nachvollzug, zum Sehen in der Art des Hörens, was nach Dusapin bedeutet: „den Weg wiederzuerkennen“ statt „das Zuhören durch Konventionen der Erinnerung (zu ) ersetzen“.

Natürlich spielen solche Konventionen eine Rolle; aber sich auf sie zu verlassen, bedeutet das Werk zu verlassen. Und dann bleibt man, der man war, statt die Chance zu nutzen, „ein Anderer zu werden“ (Dusapin).

Das gelingt nur, wenn man es dem künstlerischen Schaffen gleich tut, nämlich „Paradoxe zu erfinden“ (Dusapin):
„ ... die eigenen Verfahren nicht zu respektieren, andere zu erfinden, dann erneut das Gegenteil davon zu tun, anzufangen und noch einmal andersherum anzufangen, die Regeln zu verraten, seine subjektiven Entscheidungen willkürlich zu ändern, sie mit einer gegensätzlichen Behauptung zu blockieren, mit einem Schlag darauf zu verzichten, wieder eine andere zu wählen, zu zweifeln, von neuem zu beginnen und so fort. Schöpferisch tätig sein heißt, die grundsätzlichen Konflikte und Paradoxa des Lebendigen zu akzeptieren und sich, wenn man so will, zu ihrem Spiegel zu machen, vermittelt über das Begehren, das seinerseits konflikthaft und paradox ist. Schöpferisch tätig sein, das heißt trennen und anschließend wieder vereinen, streichen und dasselbe wieder neu schreiben, verdichten und anschließend dehnen, immer wieder zögern, unablässig neu aufbrechen, immer weitermachen.“

Matthias Kunkler hätte sicherlich weitergemacht, weitergelebt, wenn ihm nicht das größte Paradox widerfahren wäre, der Tod.

Wir aber, die Betrachter, können sein Werk weiterleben lassen, indem wir mit ihm weiter leben.