Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Herbst“ von Matthias Kunkler, 21.10.2006, Alban Sänger

Erinnerung an Dr. Jörg Becker

Jörg Becker ist am 19. Oktober 2005 in Markgröningen beigesetzt worden. Matthias hatte ihn im Rahmen der Vorbereitungen zu der Ausstellung „Abgewand“ im Museum Goch kennengelernt, wo Jörg Becker damals Museumsleiter war.

Beide, der Künstler und der Kunsthistoriker, verstanden sich auf Anhieb, weil sie beide ihre Sache mit heiterem Ernst betrieben; die Kunst selbst war ihnen wichtiger als der Kunstbetrieb, weit wichtiger als die Performance ihres eigenen Ego. Jörg Becker zog die Konsequenz und hat die Leitung der Galerie Albstadt aufgegeben, um als freiberuflischer Kunsthistoriker Ausstellungen zu kuratieren (wie die Ausstellung Naturentwürfe, Albstadt 2000), die Zeitgenossen auf manch wertvolles Erbe aufmerksam zu machen und vor allem Künstler in jeder Hinsicht zu beraten und zu begleiten. Darum habe auch ich - als Nachlass-verwalter des Werkes von Matthias - ihn gebeten, eine Website zu erstellen. Vor fast genau zwei Jahren weilte ich darum in Reutlingen, wo Jörg Becker auch die wunderbare Gratianus – Stiftung betreute. Ich hatte ihm am Abend eines langen Arbeitstages ein Bild von Matthias geschenkt.

Als ich mich dann am darauffolgenden Tag verabschiedete, drückte er mir eine Karte in die Hand, auf der er noch in der Nacht Folgendes notiert hatte: „Als ich das Bild von Matthias ausgepackt habe, bemerkte ich erst, wie schön es ist, und dass ich mich sofort darin wiederfinden konnte. Die organische Form in der Bild-Mitte strahlt aus auf die sie rahmenden Rechteckformen, erfüllt sie mit Leben und Heiterkeit. Die goldenen Applikationen verleihen dem Bild Festlichkeit und verweisen auf eine höhere Macht. Wenn ich dieses Bild nun immer von meinem Arbeitsplatz aus sehe, strahlt etwas von der positiven, grossen Lebensenergie auf mich ab, und ich werde vielleicht sogar etwas leichter mit der schwierigen Aufgabe fertig, die Farben und ihr Leben in anonyme Pixel und Gestaltungsraster umzusetzen. ...“

Matthias’ Farben leben. Das ist mir ein wichtiger Satz. Denn: Leben ist die Grundkategorie des Organischen, das nicht mit dem Maßstab der linearen Zeit messbar ist, sondern erfahrbar als zyklische Verwandlung wie die Jahreszeiten in unseren Breitengraden: Der Frühling als die Zeit des Geborenwerdens und Wachsens, der Sommer als die Zeit des „in-Blüte-Stehens“, der Herbst als die Zeit der Reife, des Vergehens und der Verwandlung, und der Winter als die Zeit der Ruhe.

In Matthias’ Werk ist all das wiederzufinden; es gibt

  • Bilder des Durchbrechens, Sprengens und Aufschießens;
  • Bilder des Spiels aller voll entwickelten Kräfte;
  • Bilder der Reife, der Verwandlung und des Verblassens und Verwelkens;
  • Bilder der glitzernden Starre und kühlen Klarheit.

Mit den letztgenannten hatte an Matthias’ Geburtstag am 4. Dez., zwei Jahre nach seinem Tod, der Ausstellungszyklus begonnen; jetzt wird er mit dem Herbst beendet. Zu sehen sind Bilder, die nicht unbedingt in der Zeit des Herbstes gemalt worden sind; einige sind z.B. im Januar, März oder August entstanden. Dennoch scheinen sie mir etwas Herbstliches an sich und in sich zu sein. Bestätigt hat mir mein Gefühl z.B. Frau Schouba von der Rahmungsfirma Conzen, wo ich drei Bilder zur Rahmung hingebracht hatte. Ich bat sie, spontan eine Jahreszeit zu den vorgelegten Werken zu assoziieren, und ohne zu zögern antwortete sie: Herbst!

Was ist das, was den Betrachter dieser Bilder in eine Herbststimmung versetzt? Es sind ja keine Herbstlandschaften, Jagdszenerien oder Schalen mit Früchten darauf zu sehen; so etwas hätte Matthias nicht malen wollen, war er doch der Meinung, dass das Wunderbare in der Natur nicht durch noch so wunderbare Könnerschaft verdoppelt werden müsse. Aber genauso vehement hatte er sich immer gegen den Verdacht gewehrt, er drücke in seinen Bildern seine Gefühle aus. Um es mit kunsthistorischen Begriffen zu sagen: er wollte weder im-pressionistisch noch ex-pressionistisch schöpferisch tätig sein.

Wie er malte, lässt sich vielleicht aus den Worten von Günter Wohlfart – Philosoph in Wuppertal – heraus verstehen: „Im künstlerischen Arbeitsprozess, im Malen oder Hauen eines Bildes wird der Prozeß geführt und das Urteil gesprochen, das das Gebilde stillschweigend über sich selbst spricht. Urteilen in der Malersprache heißt zunächst – einfach Verteilen von Farben. So urteilt der Maler stillschweigend – nicht nur in eigener Sache, sondern auch –und beides ist ja häufig nicht zu trennen – in seiner Antwort auf die Malerei des anderen... Cézanne hat über Delacroix und Poussin geurteilt und ihnen in seiner Sprache geantwortet, nicht indem er geklügelt hat, sondern indem er geschwiegen und gemalt hat.“

Und ergänzend zitiert Wohlfart aus den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (Franz Kafka), um das silentium artificis des Künstlers zu beschreiben: „Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.“

Als Lebenspartner von Matthias kann ich bezeugen: Matthias hat aus dieser einsamen Stille seine Antworten auf die Werke seiner Vorgänger gemalt und dabei unser menschliches In-der-Welt-sein anschaulich/anschaubar interpretiert; seine Bilder illustrieren aber keinen auch allein mit Worten darstellbaren Sinn, ganz im Sinne der kunstphilosphischen Grundauffassung von G. Wolfahrt: „Das ästhetisch Bedeutende hat keinen Sinn, es gibt, es bildet Sinn, es macht Sinn für mich – oder auch nicht.“

Genauso wie z.B. Vivaldis Der Herbst Sinn macht, aber erst dann, wenn diese Musik gespielt und gehört wird. Auch ein Bild muss gespielt werden, aber mit den Augen. Hierzu wieder ein Zitat aus dem Essay von G. Wohlfart: „Ein Bild interpretieren heißt zunächst: Die Augen in ihm spielen lassen, strenger: es spielen, so, wie in der Musik ein Stück interpretieren heißt: es spielen. Denk dir nichts über das Bild aus, das Bild soll sich gleichsam in dir ausdenken.“

Gemäss dieser Anforderung an den Rezipienten will ich mal versuchsweise das Bild der Einladungskarte anspielen:

ohne Titel

Die ins Auge fallende Verteilung der Farben ist die Gliederung in ein oberes braunes Feld und ein unteres violettes Feld. Violett ist eine Mischfarbe aus Rot und Blau, dem Rot des Sommers – rote Rosen – und dem Blau eines klaren Wintertages; so erinnert das Violett und kündigt gleichzeitig an. Das Braun, die Endstufe aller Herbstverfärbungen, sozusagen das Farbintegral, schiebt sich wie ein Riesenschaber über das Violett, das noch durchscheint, wie auch unter dem Violett noch Blau, Grün und Gelb durchscheinen.

Würde man sich die draufgesetzten Farbflächen wegdenken, wäre es im Bild gleichsam ein Himmelshintergrund, aber ein brauner Himmel; aber anders als ein blauer Himmel, lässt ein brauner Himmel den Betrachter nicht in eine metaphysische Ferne gleiten, sondern hält ihn sozusagen in der Ebene der Ambivalenz des Violetts. Verstärkt wird diese künstlerische Absicht noch dadurch, dass der Künstler in den angefügten „Braunstudien“ zeigt, dass auch dem Braun geheimnisvolle Tiefe innewohnen kann. Gerade der alternative Kommentar macht klar, dass er ein Braun wollte, was die Präsenz eines mittelalterlichen Goldhintergrundes hätte, ohne die ihm innewohnende metaphysische Symbolkraft.

Auch die über den oberen Bildrand hinausragende blaue Fläche kommentiert das Thema „Bildhintergrund“. Denn sie für sich betrachtet zeigt die Berührung von Himmel und Meer am Streifen des Horizontes. Streifen gibt es in diesem Bild etliche; besonders auffallend der senkrechte violette Streifen am linken oberen Rand. Durch ihn wird die violette Fläche nach oben gezogen, sozusagen virtuell über die braune Fläche, wie auch die braune Fläche virtuell nach unten gezogen wird, wenn man den braunen Streifen an der Grenze zwischen dem Violett und der altrosafarbenen Fläche beachtet.

Insgesamt resultiert also ein Sich-ineinander-Verschieben der beiden Hauptflächen, so dass sozusagen eine dynamische Statik des Bildes entsteht. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn man einander korrespondierende Bildelemente über die Sehachsen miteinander verbindet, z.B. die beiden blau-rot-weiß-schwarzen Farbflächen, zur Spannungsverstärkung unterschiedlich gerichtet gesetzt; oder die schräg gestrichenen Grüntöne – wie vom Wind gebogene Grashalme – in dem fast mittigen unteren aufgesetzten Feld korrespondierend zu dem gleichartig gemalten am oberen linken Rand.

Ich hatte eben einiges zum braunen Hauptfeld gesagt, über das violette wäre nicht weniger zu sagen, z.B. dass in ihm Rechtwinkligkeit auffällt wie von Rahmen, deren Bilder verloren gegangen sind; oder: dass im unteren Bereich eine schwarz-weiße getupfte Punktreihe durchzieht wie eine ostinate Rhythmusgruppe…

Mit ihr möchte ich mein Anspielen des Bildes ausklingen lassen. Sie haben ja selbst die Möglichkeit, nachher oder irgendwann später der Komposition dieses Bildes weiter zu lauschen, denn es erklingt immer dann, wenn man es in aller Stille betrachtet.

Jetzt bitte ich Sie, dem Spiel von Matthias’ Patenkind Athena Fröhlich zu lauschen.