Rede zur Ausstellungseröffnung „Winter“, Dr. Andrea Wandschneider (Museum Paderborn)

Matthias Kunkler „Winter“
Galerie Leuchter & Peltzer, Düsseldorf , 4. Dezember 1999

Wer von Ihnen regelmäßig die Feuilletons unserer großen deutschen Zeitungen studiert, wird leicht feststellen, daß das Wort von der Krise der Kunst seit langem die Runde macht. Von „totem Müll“ ist da die Rede, von „Party- und Vernissagenkunst“, von der „Überführung des Louvre ins Disneyland“.

Die Moderne sei erschöpft, tot die Avantgarde. Das 20. Jahrhundert befände sich heute auf einer ähnlichen Schwundstufe wie seinerzeit das ausgehende 19. Säkulum. Ja, noch schlimmer, kläglicher sei der augenblickliche Zustand, denn anders als damals kämen Erneuerungskräfte, Widerspruchsgeister und Gegenbewegungen nirgends in Sicht. Daran änderten auch die neuen Medien nichts, seien diese doch nichts anderes als ein kurzfristiges Aufputschmittel der ansonsten ermüdeten, da­hinsiechenden Kunst.

Man mag in diesen Endzeitgesang einstimmen oder nicht - eines ist gewiss: Kaum jemals wurde soviel über Kunst reflektiert, theoretisiert und v. a. spekuliert wie in unseren Tagen kurz vor Vollendung des 2. Jahrtausends. Künstler, Museumsleiter, Galeristen und Ausstellungsmanager sind ständig aufgefordert, über Stand und Fortgang der Kunst ihr Urteil abzugeben - Statements zum Jetzt, Prognosen für morgen! „Ende der Kunst - Zukunft der Kunst“, so lautete programmatisch eine Vor­tragsreihe, zu der die Bayerische Akademie der Schönen Künste alle diejenigen einlud, die hierzu eine Meinung haben sollten - von Klaus Fußmann bis Peter Sloterdijk.

Soviel Reden über die Kunst ist schon verdächtig, das heißt, verdächtig ist nicht das Reden selber, sondern die merkwürdige Diskrepanz, die daraus hervorbricht. Denn steht nicht diesen anwachsenden Diskursen über die aktuelle Kunst eine wachsende Entfremdung gegenüber, eine Verunsicherung auf Seiten des Rezipienten - oder nennen wir ihn ruhig den „Kunstgenießer“ - ? Je gewaltiger das Wort der Fachkom­petenz, desto größer, so scheint es, die Einsamkeit des Betrachters vor dem Werk.

Er soll das Gesehene begreifen, einen Sinn ausmachen, aber er weiß, daß er sich dabei nicht mehr auf seine Wahrnehmung verlassen kann. Um die Gegenwartskunst zu verstehen, so hat man ihm gesagt, bedarf es der intellektuellen Unterstützung der Spezialisten, der ästhetischen Reflexion aus zweiter Hand. Arnold Gehlen war es, der schon in den 60er Jahren den Begriff von der „Kommentarbedürftigkeit“ der Mo­derne prägte: Ohne intellektuelle Anstrengung, ohne theoretisches Rüstzeug sei eine wirkliche Annäherung an ein zeitgenössisches Werk - ob Bild, Objekt oder In­stallation - nicht möglich.

Zweierlei ist also geschehen: die Kunst, mit der sich seit jeher das Kriterium der Vollkommenheit verband, wurde für bedürftig erklärt, eben „kommentarbedürftig“, und der Betrachter für unmündig, visuell unmündig - ein doppelter Bruch.

Zweifellos ist das Problem komplexer, als es hier dargelegt werden kann. Jedoch meine ich, daß jede Debatte um Möglichkeiten und Zukunftsaussichten der bilden­den Kunst, um ihren konkreten Stellenwert für den heutigen Menschen erst dann wieder fruchtbar sein kann, wenn man ihr das Potential zurückgibt, eine eigene Er­fahrungsdimension zu eröffnen, deren Sinn in dieser Erfahrung selbst liegt (und nicht von außen herangetragen werden muss.) Das aber heißt auch, den Betrachter, für den das Werk letztendlich geschaffen ist, wieder in sein Recht zu setzen, das heißt seine visuelle Erkenntniskraft zu rehabilitieren.

Jean-Christophe Amman, Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, hat es vor einiger Zeit in einer öffentlichen Rede richtiggestellt: weniger um eine Krise der Kunst würde es sich handeln, als um eine Krise der Wahrnehmung. In der Tat: Im Zeitalter audiovisueller Massenmedien, globaler optischer Schaltungen und all­gemeiner Beschleunigungstechnologien ist das ruhige geduldige Anschauen, das kontemplative Betrachten obsolet geworden.

Wir lebten in einer Zeit „ästhetischer Ungeduld“, in der visuelle Reize nur noch „die Dauer und Subtilität von Elektroschocks“ hätten, schreibt John Updike in einem Es­say. Unser Auge wird täglich überspült von einer Flut optischer Eindrücke, und doch nehmen wir nichts mehr wahr; das heißt, wir sprechen dem Auge die Erkenntniskraft ab. Ein sinnliches Erkennen, ein Wahr-nehmen (man horche auf dieses Wort!), das nicht durch unseren Verstand, unseren Intellekt aufbereitet wurde, gilt uns nichts mehr.

Nun stellt aber gerade die zeitgenössische Moderne höchste Anforderungen an die Wahrnehmungsbereitschaft und visuelle Kombinationsfähigkeit des Betrachters. Ein Bild, das nichts mehr erzählt, nichts mehr beschreibt, sich keinem Stil mehr ver­pflichtet, sondern in letzter Konsequenz reines Scheinen ist, erfüllt sich auch aller­erst in einem Akt reinen Schauens. ‘What you see is what you see‘ - „Das, was Du siehst, ist was Du siehst“- , diese scheinbar tautologische Wendung entstammt dem Mund des amerikanischen Malers Frank Stella, dem sich übrigens Matthias Kunkler nach eigener Aussage durchaus wahlverwandt fühlt. „What you see is what you see“, damit wehrte Stella jedes Ansinnen der Interpreten ab, bei seinen Werken nach einer jenseits des optischen Befunds liegenden Bedeutung zu suchen.

Was zunächst äußerst einfach und banal klingt - „das, was Sie sehen, ist was Sie sehen“ - beinhaltet vielleicht im Gegenteil eine hohe Anforderung an uns: sich ein­zulassen auf einen puren Sehdialog mit dem Werk unter Ausschluß jeglichen dis­kursiven Denkens, jeglichen Begriffs. Wohin kommen wir da bei den enorm vitalen, farbsprühenden Werken von Matthias Kunkler? Welcher Art ist der Wahrneh­mungsinhalt dieser ungemein präsenten Objekte?

Bevor wir uns mit dieser Frage befassen, einige Sätze zur technischen Seite des Schaffensprozesses: Das Ausgangsmaterial bilden verschiedene Papiere ~ Bütten, Zeichenkarton, Transparent- und Japanpapiere, ergänzend können auch Stoffe hin­zukommen. Die einzelnen, noch separierten Papierbögen, meist unregelmäßig ge­schnitten oder gerissen, wurden dann in unterschiedlichster Weise bemalt: 'mal herrscht der freie gestische Duktus, eine impulsive Handschrift, die über die Papiere fährt, 'mal herrscht die Disziplin in Form von linearen Rastern, textilen Mustern, Spi­ralen, Kreisen und Rechtecken. Im Anschluss an die Bemalung erfolgte die Montage der Papiere: Die je für sich starkfarbigen Einzelbögen („Versatzstücke“) werden col­lageartig neben- und übereinandergeklebt, so daß ein dichtes, in Oberfläche und Umriss äußerst bewegtes Gebilde entsteht. War alles montiert - und eventuell ein rückseitiges Holzgerüst zwecks zusätzlicher Stabilität angebracht - erfolgten weitere malerische Eingriffe im Dienste einer optischen Vernetzung der Teile.

Und das Ergebnis dieses Werkprozesses? Eine unvermittelte Ganzheit, die das Au­ge zu überwältigen droht! Was dem Betrachter da entgegenschlägt, ist von solch affektiver Dichte, daß ein orientiertes Sehen von vornherein vereitelt wird. Zwar suggerieren intakte Formen und regelmäßige Muster ständig neu die Idee einer durchorganisierten Ganzheit, doch vermag der Blick im Zugleich des so Verschie­denartigen und auch Divergierenden keinen Geschehnisablauf, kein ordnendes Ge­setz zu entdecken.

Und somit wären wir beim ersten Paradoxon, beim ersten „Widerspruch“ der Arbei­ten Kunklers: Hinsichtlich ihres künstlerischen Verfahrens haben wir es mit Collagen zu tun, einer ganz expliziten Form des Komponierens, des Zusammensetzens, Zusammenstellens; hinsichtlich ihrer Erscheinung jedoch handelt es sich gerade nicht um Kompositionen in dem Sinne, daß die Teile in einer nachvollziehbaren Relation zueinander stünden. Im Gegenteil: Es wird alles unternommen, jeden Ansatz eines wie auch immer gearteten Bezugssystems zu vermeiden. In dem beinahe Zuviel an Farbigkeit, an Klängen und dem Überangebot an Formen und Strukturen kann das Auge keine Zusammenhänge selbsttätig herstellen oder unterscheiden. Alle Formen, Flächen, Muster sind gleich nah, und so ist auch das Bild als Ganzes zu nah, um eine klärende Übersicht zu gewinnen. Klärung - das bedeutet: Sondieren, Verglei­chen, Gewichten, und eben dies wird durch ein nicht-kompositorisches In-der-Schwebe-Halten, ein Ausjonglieren sämtlicher Teile vereitelt. Es gibt keine Hierar­chie, keinen wirklichen Aufbau der Elemente und damit auch keine Choreographie des Sehens - alles drängt gleich-gültig nach vorn.

Und damit wären wir beim zweiten „Widerspruch“ in der Erfahrung dieser Werke: Ihrer plastischen Qualität nach handelt es sich bei den Wandobjekten um Reliefs -durch die vielfältige Übereinanderschichtung der Papiere kommt es zu einer diffe­renzierten Oberflächenbewegung mit Tiefen- und Höhenbildungen, die das Auge im Nahblick abtasten kann. Aus der Distanz jedoch, die erforderlich ist, um das Ganze zu erfassen, rücken alle Elemente in eine Ebene. Diese planierende Wirkung ver­dankt sich in erster Linie der Farbe. In ihrer Intensität und Leuchtkraft reißt sie alles räumliche Hintereinander mit sich an die vorderste Front und erklärt sie zu dem, was sie selbst ist: zur Oberfläche.

Wir haben es also gewissermaßen mit zwei Oberflächen zu tun - mit einer materiel­len, abtastbaren (die verschieden gelagerten Papiere) und einer optischen, die aber - und das ist das Entscheidende - völlig illusionslos ist. Zwar können die Muster und Raster, die tanzenden Kreise und graffitiartigen Farbbahnen im Betrachter ir­gendwelche Assoziationen freisetzen, doch weisen sie nicht über sich hinaus, dass heißt auf etwas, das jenseits ihrer puren optischen Gegebenheit liegt.

Um es deutli­cher zu sagen: Ein traditionelles Bild geht von einer regelmäßig begrenzten Fläche aus, meist einer Leinwand, und verwandelt diese in ein anderes, eine Landschaft, ein Stilleben, ein Porträt oder ein abstraktes Gefüge. Das ist die Illusion! Hier aber sind Malgrund und Malerei, Bildkörper und Bildmuster gleichsam Eins, sie fallen op­tisch zusammen.

Ganz offensichtlich ist dies bei dem Objekt, das auf den 1. März 1987 datiert ist: Der Malgrund thematisiert sich selbst als halbplastische Form bzw. Silhouettengestalt und als diese wird sie eins mit der Farbe - keine „gemalte“ gelbe Schlaufe links oben, sondern eine wirkliche Schlaufe mit gelber Oberfläche, keine gemalte Farböffnung, sondern ein wirklicher Riss! Selbst die Arbeiten mit deutliche­rem Bildcharakter geben sich völlig illusionslos: Kreise und andere Formen werden aus dem Malgrund ausgestanzt, so daß die durchscheinende Wand, bzw. hier der weiße Unterlagekarton in die Malerei hineinspielt.

Konsequenterweise ist auch die klassische Rahmengestalt, das fest umgrenzte Bildfeld aufgebrochen und nur noch durch die mehr oder weniger rechteckige Ge­samterscheinung in Erinnerung gehalten. Und damit wären wir beim dritten Para­doxon angelangt: Die „heilige Fläche“, jenen transzendierenden Seinsgrund der Malerei gibt es bei Kunkler nicht mehr, und doch haben wir es hier mit Malerei in ihrer reinsten Form zu tun.

Stellten wir uns die Frage: Wie könnte Malerei ganz sie selbst sein, ohne sich ad absurdum zu führen, so hätten wir in diesen Werken eine Antwort. Eine Malerei, die sich keiner kompositionellen Ordnung, keiner Bildregie unterwirft und somit Simultaneität, das heißt ein unhierarchisches Zugleich konkret verwirklicht; eine Malerei, die auf kein Anderes, jenseits ihrer selbst Liegendes anspielt; eine Malerei, die einer apriorischen Instanz, nämlich der definitiv begrenzten Bildfläche abgeschworen hat und damit offen ist in Hinblick auf ihre endgültige Gestalt - ja, im Grunde verstand Kunkler sein Werk niemals als end-gültig und dies ist durchaus wörtlich zu verste­hen: Teile eines Werkes konnten am nächsten Tag in ein neues Werk eingehen oder standen ursprünglich in einem anderen Zusammenhang.

Ein Bild löst ein ande­res ab wie die Jahreszeiten, die einander folgen. Nur das Prinzip kann Absolutheit beanspruchen, nicht dessen materielle und darin zeitliche Objektivierung. Die Werke sind gewissermaßen „Momentausnahmen“ eines virtuell unendlichen Schöpfungs­prozesses und der Tag ihrer jeweiligen Erschaffung gab dann auch den Bildtitel; -eine Malerei schließlich und endlich, die nichts vortäuscht und uns dennoch verführt, die illusionslos ist und gleichwohl geheimnisvoll, ein reines Scheinen, das uns in Bann zieht. Das, was wir sehen, ist was wir sehen und sollte ich dieses erscheinen­de „Was“ auf den Begriff bringen, „be-greifen“, es mit Sinn füllen, so müsste ich scheitern.

Aber, und da kommt mir der französische Philosoph Jean Baudrillard zur Hilfe, den ich zitiere, „aber uns bedroht kein Mangel an Sinn, sondern im Gegenteil, wir haben davon im Überfluss, und wir gehen zugrunde daran. Die Dinge sind zunehmend in den Abgrund des Sinns geraten, und immer weniger haben sie den Zauber des Scheins bewahrt“.